Das Oster-Special: Wie viel Kitsch verträgst du heute? – Ästhetisches Erleben zwischen Nostalgie und Neugier
Wie viel Kitsch verträgst du heute? – Ästhetisches Erleben zwischen Nostalgie und Neugier
Es ist Ostern und die Hasen sind wieder los. Man begegnet ihnen in Schaufenstern und Vorgärten, auf Ostereiern und Pralinenschachteln. Darunter zwei besonders beliebte Motive: Ein goldenes Exemplar aus der Schweiz und sein fränkischer Kollege – der Dürer-Hase! Dass es sich bei Albrecht Dürers Naturstudie eines jungen Feldhasen von 1502 um Kunst handelt, ist unzweifelhaft. Aber gilt das auch für die serienmäßig hergestellten Doppelgänger aus Plastik? Solche Chimären aus Kunst und „Kunst-stoff“ werfen eine Reihe von interessanten Fragen auf: Wo hört Kunst auf und wo fängt Kitsch an? Warum ist unser Verhältnis zu Kitsch so ambivalent? Obwohl wir ihn als trivial und sentimental ablehnen, erliegen wir seinem Zauber trotzdem von Zeit zu Zeit. Und warum spielt Kitsch in der empirischen Ästhetikforschung bislang kaum eine Rolle? Mit einem kürzlich veröffentlichten Modell haben die Psychologen und Wahrnehmungsforscher Stefan Ortlieb und Claus-Christian Carbon versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Sie nehmen an, dass die Polarität von Kitsch und Kunst zwei Spielarten des ästhetischen Erlebens entspricht – einer schnellen unreflektierten Gefühlsreaktion und einer langsameren Variante, die durch bewusste Reflexion vermittelt wird – wobei Kitsch an Bedürfnisse nach Sicherheit und Intimität appelliert, die im Widerspruch stehen zu unserem sonstigen Streben nach Autonomie und neuen Erfahrungen. Wie ist das genau zu verstehen?
Wenn wir im visuellen Bereich von Kitsch sprechen, denken wir zunächst an ein vertrautes, leicht identifizierbares Bildmotiv, das spontan eine positive affektive Reaktion hervorruft, weil es eng mit angenehmen oder tröstlichen Vorstellungen von einer heilen Welt verbunden ist. Kitsch schöpft dabei aus einem Standardrepertoire an gefühlsbetonten Themen (z.B. romantische Liebe), Sinnsprüchen und vorgefertigten Bildern (z.B. Stockfotos und Emojis) mit einem hohen Wiedererkennungswert. Ob wir etwas auf den zweiten Blick als kitschig ablehnen, hängt also maßgeblich davon ab, wie gut wir mit den Klischees einer Kultur vertraut sind: Kleinkinder verwechseln noch Osterhasen mit Nikoläusen (siehe Polt, 1997) und wer den Dürer-Hasen nicht kennt, wird sich möglicherweise auch von einer Reproduktion auf einem Zinnteller beeindrucken lassen (übrigens sehen Besucher der Albertina in Wien, wo sich das Original heute befindet, aus konservatorischen Gründen auch „nur“ eine Reproduktion—also lediglich einen Stellvertreter). Im Unterschied zu Kitsch hatte Kunst stets den Anspruch originell und neuartig aber mitunter auch provokant und unbequem zu sein: Durch formale Neuerungen und inhaltliche Tabubrüche fordert sie unsere Sehgewohnheiten und damit unser Weltbild heraus. Dürers Zeitgenossen hielten beispielsweise einen Feldhasen oder eine Ansammlung von Grashalmen („Das große Rasenstück“) nicht für darstellungswürdig; allein durch die Wahl seiner Motive ist es Dürer gelungen diese Einstellung zu verändern. Heute ist sein Feldhase ein Sinnbild für Kunst schlechthin. Wie Leonardos Mona Lisa und van Goghs Sonnenblumen ziert er nun Kühlschrankmagneten und Kaffeetassen. Der Dürer-Hase zeigt also auch, dass das Verhältnis zwischen Kitsch und Kunst ein Dynamisches ist: Sobald revolutionäre Kunst zum Allgemeingut geworden ist, wird sie für Kitsch interessant, zumal wenn es sich um einen possierlichen Hasen handelt (um auf Nummer sicher zu gehen, dass man wirklich etwas Gefälliges schafft, bringt man ihn am besten noch mit Ostern in Verbindung). Kein Wunder, dass diese fragwürdige Praxis sofort wieder die Kunst auf den Plan ruft: Als Ottmar Hörl im August 2003 für sein „Großes Hasenstück“ 7000 Dürer-Hasen aus Plastik auf dem Nürnberger Hauptmarkt aufmarschieren lies, rief das sehr unterschiedliche Reaktionen hervor; ein erstes Indiz, dass es sich nicht nur um eine Ansammlung von banalen Plastik-Hasen-Attrappen handelte, sondern tatsächlich um etwas Neues, noch nicht Dagewesenes. Der Anblick von 7000 Dürer-Hasen in Reih und Glied erregte die Aufmerksamkeit von Passanten und lud sie zum Nachdenken ein – nicht zuletzt über das Verhältnis von Kunst und Kommerz. Hörls Hasen-Kollektiv brachte somit viele Menschen, die sich sonst nicht für zeitgenössische Kunst interessieren, auf neue Gedanken, die ein Plastikhase auf der heimischen Fensterbank kaum auszulösen vermag (und das auch gar nicht will).
Kunst kann also zu Kitsch werden und umgekehrt; mal wird der Dürer-Hase aufgrund seiner Eigenschaft geschätzt eine spontane affektive Reaktion hervorzurufen, mal soll er uns zu neuen Einsichten führen. Auch wenn sich Kitsch und Kunst nur bedingt an einem konkreten Objekt festmachen lassen, bleibt dennoch ein funktionaler Gegensatz bestehen: Kunst will unseren Horizont erweitern und uns helfen, Neues zu denken, Neues zu machen; Kitsch spendet die hierfür notwendige Rückversicherung und Geborgenheit. Tritt der Dürer-Hase an Ostern in seiner Kitschfunktion auf, so stellt er sich in den Dienst einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Vertrautheit, während er in seiner Kunstfunktion an Bedürfnisse nach Autonomie und neuen Erfahrungen appelliert. Sind diese Annahmen zutreffend, so sollte Kitsch eine wichtige Rolle bei der Emotionsregulation spielen: Unsere Empfänglichkeit (bzw. Geringschätzung) für Kitsch sollte sich in Abhängigkeit von bestimmten Lebensereignissen auf charakteristische Weise verändern. Es liegen tatsächlich empirische Belege dafür vor, dass der Zusammenhang zwischen Vertrautheit (bzw. Neuartigkeit) und Gefallen situativen Einflüssen unterliegt: Innovatives Design wird positiver bewertet, wenn sich die Befragten sicher fühlen; umgekehrt lehnen Probanden abstrakte Kunstwerke eher ab, wenn sie sich zuvor gedanklich mit ihrer Sterblichkeit beschäftigt haben. Schließlich gibt es erste Hinweise darauf, dass die gedankliche Beschäftigung mit dem Tod zu milderen Kitschurteilen führt. Abgesehen von einer dynamischen Betrachtung, die eine ganze Reihe von empirischen Befunden integriert, lässt sich aus dem Modell von Ortlieb und Carbon auch eine Vermutung ableiten, warum Kitsch von der empirischen Ästhetikforschung bislang so sträflich vernachlässigt wurde. Eine Berufsgruppe, die sich (idealerweise) durch ein besonders hohes Maß an Neugier auszeichnet, sind Wissenschaftler. Ist das möglicherweise der Grund, warum sich die empirische Ästhetikforschung viel lieber mit Kunst beschäftigt als mit Kitsch? „Paradoxerweise ist es in unserem Forschungsfeld gerade die Auseinandersetzung mit Kitsch, die neue Einsichten verspricht“ so Ortlieb. Wie das Beispiel der Hörl-Installation zeigt, führt selbst zum Verständnis der Gegenwartskunst kein Weg mehr an Kitsch vorbei. Der Dürer-Hase bleibt lehrreich und schön zugleich.
Zum Weiterlesen
Ortlieb, S. A., & Carbon, C. C. (2017). Kitsch oder Coping? Die biologischen Grundlagen der sozialen Motivation als Determinanten des ästhetischen Erlebens. In C. Schwender, B. P. Lange, & S. Schwarz (Eds.), Evolutionäre Ästhetik (pp. 145-162). Lengerich: Pabst.
Ortlieb, S. A., & Carbon, C. C. (2019). A functional model of kitsch and art: linking aesthetic appreciation to the dynamics of social motivation. Frontiers in Psychology, 9(2437), 1-17. doi: 10.3389/fpsyg.2018.02437. (Volltext im Internet frei verfügbar unter https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2018.02437/full )
Kontakt
Prof. Dr. Claus-Christian Carbon Telefon: 0951 863-1860 | Dipl.-Psych. Stefan Ortlieb stefan.ortlieb(at)uni-bamberg.de Telefon: 0951 863-1865 |