Lernen als Selektionsprozess
Inhalt und Zielsetzung
Menschen sind, wie alle Lebewesen, Produkt der Evolution. Das beinhaltet, dass die Mechanismen, die menschliches Verhalten steuern, ebenfalls durch Evolution - also natürliche Selektion - entstanden sind. Menschliches Verhalten ist aber nicht genetisch determiniert, sondern im höchsten Maße flexibel. Menschen passen ihr Verhalten den jeweiligen Bedingungen an. Dies ist abhängig von den kulturellen Gegebenheiten, sowie den individuellen Erfahrungen des Individuums.
Ziel des Projekts ist es, diese verschiedenen Ebenen der Verhaltensanpassung in einem quantitativen Modell formal zusammenzuführen.
Methode
Grundlage des Projekts ist die sogenannte Price-Equation, welche Selektionsprozesse auf abstrakter Ebene formal beschreibt. Selektion basiert immer darauf, dass zwei Größen kovariieren (d.h. im statistischen Mittel tendenziell gemeinsam auftreten). Im Fall der natürlichen Selektion sind dies biologische Eigenschaften (z.B. Genfrequenzen) und evolutionäre Fitness (also der Beitrag von Individuen zur zukünftigen Population).
Auf Ebene des individuellen Lernens sind die kovariierenden Größen Verhaltensweisen und deren Konsequenzen. Wenn diese Konsequenzen für den Organismus im statistischen Mittel einen Zuwachs in evolutionärer Fitness vorhersagen, findet auch hier ein Selektionsprozess statt. Man nennt das üblicherweise "Verstärkung", "operante Konditionierung" oder "Erfahrungslernen". Tatsächlich ist es ein Selektionsprozess, der nach demselben Prinzip funktioniert wie natürliche Selektion.
Darüber hinaus lernen Menschen auch, indem sie andere Menschen beobachten, sie imitieren, oder durch sie instruiert werden. Diese Formen des Lernens ermöglichen die Ausbreitung von Verhaltensweisen in einer Gruppe, welche parallel zu den Prozessen der natürlichen Selektion und den Prozessen des individuellen Erfahrungslernens verlaufen. Man spricht in diesem Fall übelicherweise von "Sozialisation" oder "Erziehung". Tatsächlich handelt es sich auch hier um einen Selektionsprozess, der gemeinsam mit den Ebenen der natürlichen Selektion und der individuellen Selektion menschliches Verhalten in all seiner Komplexität hervorbringt.
Im Projekt werden die verschiedenen Ebenen der Verhaltensselektion formal beschrieben und mathematisch miteinander verknüpft. Das Ziel ist eine allgemeine Theorie adaptiven Verhaltens, welche die Konzepte des Lernens und der Sozialisation auf ein sicheres, naturwissenschaftliches Fundament stellt, und gleichzeitig die Komplexität menschlichen Verhaltens anerkennt.
Presse
- Interview mit Matthias Borgstede im philosophisch-psychologischen Podcast "Fipsi" vom 27.02.2023 (AG Philosophie und Psychologie)
- Interview mit Matthias Borgstede und Frank Eggert im "TU Magazin" vom 29.04.2021 (Technische Universität Braunschweig)
- Radiobeitrag "Die Profis - das populäre Wissenschaftsmagazin" vom 08.05.2021 (radio 1 rbb)
- Pressemitteilung "Verhaltensänderungen beim Eisessen" vom 03.05.2021 (Universität Bamberg)
Projektbezogene Veröffentlichungen
- Borgstede, M., Scheunpflug, A. (2024). The relation between war, starvation, and fertility ideals in sub-Saharan Africa: A life-history perspective. Evolutionary Psychology 22(4), 1-11. https://doi.org/10.1177/14747049241274622
- Borgstede, M., Anselme, P. (2024). Model-based estimates for operant selection. Journal of the Experimental Analysis of Behavior, 1-10. https://doi.org/10.1002/jeab.924
- Borgstede, M., Simon, C. (2024). Lernen und Evolution: Die Selektion von Verhalten auf Individual- und Populationsebene. In: Hammerl, M., Schwarz, S., Willführ, K.P. (eds) Evolutionäre Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43624-7_10 [Preprint: https://doi.org/10.31234/osf.io/mvpb5]
- Borgstede, M. (2024). Behavioral selection in structured populations. Theory in Biosciences. https://doi.org/10.1007/s12064-024-00413-8
- Borgstede, M. (2024). A generalized Price equation for fuzzy set-mappings. arXiv. https://doi.org/10.48550/arXiv.2312.12916
- Borgstede, M., Scheunpflug, A. (2023). The Trivers-Willard effect for educational investment: Evidence from an African sample. Evolutionary Psychological Science. https://doi.org/10.1007/s40806-023-00372-1
- Borgstede, M. (2023). Fisher's fundamental theorem. In: T.K. Shackelford (ed). Encyclopedia of Sexual Psychology and Behavior. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-08956-5_994-1
- Borgstede, M., Eggert, F. (2023). Meaningful measurement requires substantive formal theory. Theory and Psychology 33(1), 153-159. https://doi.org/10.1177/09593543221139811
- Borgstede, M., Luque, V. J. (2021). The covariance based law of effect: A fundamental principle of behavior. Behavior and Philosophy49, 63-81. PDF
- Borgstede, M. (2021). Why do individuals seek information? A selectionist perspective. Frontiers in Psychology. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.684544
- Borgstede, M. (2021). Evolutionary dynamics of the Trivers-Willard effect: A nonparametric approach. Ecology and Evolution. https://doi.org/10.1002/ece3.8012
- Borgstede, M. & Eggert, F. (2021). The formal foundation of an evolutionary theory of reinforcement. Behavioural Processes 186. 104370. https://doi.org/10.1016/j.beproc.2021.104370
- Borgstede, M. (2020). An evolutionary model of reinforcer value. Behavioural Processes 175. 104109. https://doi.org/10.1016/j.beproc.2020.104109
- Borgstede, M. (2019). Is there a Trivers-Willard effect for parental investment? Modelling evolutionarily stable strategies using a matrix population model with nonlinear mating. Theoretical Population Biology. https://doi.org/10.1016/j.tpb.2019.10.001