Wie wirkt sich COVID-19 auf die Grenzregion Bayern-Tschechien aus?
Offene Grenzen – das sind Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union gewohnt. Doch seit der Corona-Pandemie scheint dieser Zustand nicht mehr so selbstverständlich. Bereits zweimal wurden die Grenzen zwischen Bayern und Tschechien seit März 2020 geschlossen – mit weitreichenden Folgen für die Grenzregion.
Patrick Reitinger, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Historische Geographie der Universität Bamberg, und Projektpartner Dr. Lukáš Novotný, Politikwissenschaftler an der Universität Ústí nad Labem in Tschechien, untersuchen die Auswirkungen der Grenzschließungen auf nordbayerischer und tschechischer Seite. Im Interview erzählen sie unter anderem, warum der Fall Bayern-Tschechien für sie besonders interessant ist, inwiefern sie mit ihrer Forschung den Menschen vor Ort helfen können und was für die Grenzregion in Zukunft wichtig sein wird.
Können Sie ganz allgemein schildern, um was es in Ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt geht?
Patrick Reitinger: Wir arbeiten seit 2019 an einem großen Projekt, das von der Bayerisch-Tschechischen Hochschulagentur aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Finanzen und für Heimat und vom Ministerium für Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik mit rund 100.000 Euro gefördert wird. „Management of Crossborder Rurality | Bavaria Bohemia 1990 2020“ beschäftigt sich mit den Entwicklungen in der bayerisch-tschechischen Grenzregion seit Ende des Kalten Krieges. Wir schauen uns dabei vor allem politische, wirtschaftliche, administrative und zivilgesellschaftliche Akteure aus den Bezirken auf bayerischer und tschechischer Seite an, die einen Grenzbezug haben. Mit dem Projekt sind wir in einer Zeit gestartet, als Covid-19 noch kein Thema war.
Wie hat es sich ergeben, dass Sie seit Juli 2020 die Pandemie in die Forschung einbeziehen?
Patrick Reitinger: Wir haben im Frühjahr 2020 reagiert, als die Bayerisch-Tschechische Hochschulagentur eine Sonderförderung für grenzüberschreitende Projekte zu Auswirkungen der Corona-Pandemie ausgeschrieben hatte. Wir versuchen nun, die Covid-Pandemie und ihre Auswirkungen auf die Grenzregion in den größeren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang der letzten 30 Jahre einzuordnen. Dabei setzt sich unsere Forschung aus mehreren Teilstudien zusammen.
Haben Sie Beispiele für diese Teilstudien?
Lukáš Novotný: Eine Teilstudie beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Grenzschließungen auf die tschechischen Pendlerinnen und Pendler und auf die grenznahen Unternehmen. Dazu läuft eine Fallstudie im Landkreis Wunsiedel. Hier erheben wir nun abschließend Daten. Ich selbst habe vor allem zahlreiche Interviews mit tschechischen Pendlerinnen und Pendlern geführt.
Sie haben im Frühjahr 2021 auch eine Kommunalbefragung durchgeführt. Um was ging es da?
Lukáš Novotný: Im März und April 2021 haben wir in Kooperation mit der EUREGIO EGRENSIS eine quantitative Onlinebefragung von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern in der Grenzregion Bayern-Tschechien durchgeführt. Insgesamt haben 179 Kommunen teilgenommen. In zwei Fragenkatalogen haben wir einerseits versucht, Erkenntnisse zu den bayerisch-tschechischen Beziehungen im Allgemeinen und andererseits zu den Auswirkungen der Pandemie auf diese Beziehungen im Speziellen zu erhalten. Die Ergebnisse sind höchst repräsentativ, weil mehr als 40 Prozent der Kommunen im Untersuchungsgebiet geantwortet haben.
Wieso haben Sie gerade Bürgermeisterinnen und Bürgermeister befragt?
Patrick Reitinger: Gehen wir 30 Jahre zurück: Der Eiserne Vorhang fällt und die ersten Akteure, die grenzüberschreitende Kooperationen angehen, sind die Kommunen vor Ort. Das sind Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die sich auf beiden Seiten engagieren und Anfang der 90er Jahre diese Zusammenarbeit vorantreiben. Das heißt, dass aus einer analytischen Perspektive die Kommunalpolitikerinnen und -politiker für uns besonders interessant sind, weil sie die Personen sind, an denen wir messen können, wie stark grenzüberschreitende Kooperation funktioniert.
Und welche Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?
Patrick Reitinger: Bei den meisten Fragen haben wir sehr ähnliche Rückmeldungen auf bayerischer und tschechischer Seite. Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowohl in Tschechien als auch in Bayern den Grenzschließungen zustimmen und glauben, dass sie helfen können, die Pandemie einzudämmen. Andererseits sehen sie aber ihre Expertise in politischen Entscheidungen, die in München, Prag oder Berlin während der Pandemie getroffen wurden, zu wenig berücksichtigt. Die Kommunen auf beiden Seiten der Grenze kooperieren teilweise seit 30 Jahren auf lokaler Ebene miteinander. Die Expertise, die dabei entstanden ist, wird offenbar im Krisenfall nicht genutzt. Auf staatlicher Seite wiederum kooperieren Deutschland und Tschechien erst seit etwa zehn Jahren verstärkt miteinander.
Es gibt ja einige Grenzregionen in Europa. Warum ist dieser Fall besonders?
Patrick Reitinger: Er ist deswegen besonders, weil die Kooperation zwischen Deutschland und Tschechien im Vergleich noch recht jung ist. An der deutsch-französischen Grenze arbeiten die Akteurinnen und Akteure schon viel länger zusammen und die Kooperationen sind dementsprechend viel stabiler – auch in der Krise. Deutschland und Tschechien haben ab 2010 in offiziellen politischen Konsultationen begonnen, sich darauf zu verständigen, dass ein gemeinsamer Weg in die Zukunft gefunden werden muss, ohne die schwierigen historischen Kapitel der Vergangenheit ständig auf die Agenda zu setzen. Dazu zählen etwa die nationalsozialistischen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges in der ehemaligen Tschechoslowakei beziehungsweise auch der Kontext von Flucht und Vertreibung nach dem Krieg, die über Jahrzehnte hinweg das Verhältnis der beiden Länder bestimmt haben. Die Wirtschaft wurde als zentrales Handlungsfeld der Kooperation entdeckt. Im Zusammenhang der Covid-Pandemie haben wir gemerkt, dass das zentrale Glied der Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene, nämlich die Wirtschaft, das Einfallstor für die Krise, Ressentiments und wieder erstarkten Nationalismus auf beiden Seiten ist.
Gibt es denn in der Region schon so etwas wie ein Krisenmanagement?
Lukáš Novotný: Hier gibt es schon einige Verträge und Abkommen zwischen Tschechien und Deutschland. Während der Pandemie zeigt sich aber, dass die Krisenmanagementszenarien offenbar nur dann funktionieren, wenn keine Krise da ist. Denn auf einmal ticken beide Länder ganz unterschiedlich und informieren sich gegenseitig nicht richtig. Daraus lässt sich schließen, dass wir uns auf mögliche Krisen in der Zukunft viel besser vorbereiten müssen.
Nützt Ihre Forschung auch den Akteurinnen und Akteuren vor Ort?
Lukáš Novotný: Ursprünglich sollte das Projekt rein wissenschaftlich sein. Weil wir beide aber die Situation in den Grenzgebieten kennen, eine persönliche Verbindung dazu haben und von den lokalen Akteurinnen und Akteuren häufig hören, dass ihnen für Entscheidungen die nötigen Daten fehlen, liefern wir unsere Ergebnisse in die Region hinein, indem wir beispielsweise Vorträge zu unserer Forschung halten. So kann sich auch die Partnerschaft zwischen den Ländern noch weiter verbessern, was momentan insbesondere durch die Pandemie stagniert.
Welche Lehren ziehen Sie für die Zukunft?
Lukáš Novotný: Wie gut entwickelt ein Land ist, zeigt sich immer im Umgang mit den Schwächeren – räumlich gesprochen sind dies vor allem die ländlich-peripheren Regionen. Wenn Politik effektiv handelt, dann hat das einen Mehrwert für die grenznahen Räume. Und deshalb sollten wir uns auf beiden Seiten viel mehr anstrengen, damit sich eben diese Gegenden gut entwickeln. Durch schlechte und nicht koordinierte Entscheidungen in der Politik, wird sich dort die Lage verschlechtern und vieles, was in den letzten 30 Jahren sensibel aufgebaut wurde, kann ganz schnell kaputtgehen.
Eine Pressemitteilung mit zentralen Ergebnissen der Kommunalbefragung findet sich unter: www.uni-bamberg.de/presse/pm/artikel/covid-19-bayern-tschechien