Krisenbewältiger Deutschland?
Rund 3,8 Millionen – das ist die Anzahl an Jobs, die die Krise in der Eurozone bislang gekostet hat. Doch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern variieren deutlich: Griechenland verlor gut eine Million Jobs, Italien etwa 800.000. Der deutsche Arbeitsmarkt hingegen hat sich als vergleichsweise stabil erwiesen. Weshalb und zu welchem Preis, erklärt der Soziologe Olaf Struck.
Flexibilisierung von Beschäftigung – so lautet das Credo, welches von der Europäischen Kommission seit einigen Jahren mit aller Vehemenz vertreten wird. „Die Vorstellung dahinter ist: Der Arbeitsmarkt atmet mit der Wirtschaft mit“, erklärt Prof. Dr. Olaf Struck. „Geht es der Wirtschaft gut, wird eingestellt. Geht es ihr schlecht, wird entlassen.“ Struck ist Inhaber der Professur für Arbeitswissenschaft an der Universität Bamberg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Arbeitsmarktstrukturen sowie Arbeitsmarktreformen im internationalen Vergleich. In allen Ländern Europas konnte Struck in den vergangenen Jahren eine Phase der Flexibilisierung von Arbeitsmärkten beobachten.
Reformen hin zu einem offeneren und mobileren Arbeitsmarkt
So auch in Deutschland: „Deutschland hatte traditionell einen arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt, der strengen gesetzlichen Vorgaben folgte“, führt Struck aus. Beispiele hierfür waren ein starker Kündigungsschutz, wenig Möglichkeiten, längerfristig und wiederholt befristet einzustellen und vergleichsweise wenig Leiharbeit.
Geleitet von der Beschäftigungsstrategie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie der Europäischen Kommission wurde der deutsche Arbeitsmarkt in den letzten zehn Jahren stark reformiert. „Der deutsche Arbeitsmarkt ist flexibler geworden“, bringt Struck die Änderungen auf den Punkt. Infolge der Agenda 2010 wurde der Kündigungsschutz gelockert und der Einsatz wiederholt befristeter Beschäftigung erleichtert. Leiharbeit wurde liberalisiert. „Ein anderes Beispiel sind die Hartz-Gesetze: Durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes nach einem Jahr wird der Druck zur Arbeitsaufnahme erhöht,“ führt der Soziologe weiter aus. Doch trotz dieser Reformen blieben viele gesetzliche Vorgaben bestehen.
Kurzfristiger Erfolg von Reformen
Glaubt man der Europäischen Kommission, ist die traditionelle Starrheit des deutschen Arbeitsmarkts eher kontraproduktiv. Sie propagiert offene und mobile Arbeitsmärkte, die für sie Treiber von wirtschaftlicher Dynamik, Wohlfahrtssteigerungen und mehr Beschäftigung sind. Und tatsächlich: „Viele der Reformen zeigten in Deutschland Erfolg“, so Struck. Es gab Beschäftigungszuwächse, zum Beispiel durch Leiharbeit und Minijobs. Damit verbunden war auch eine Entlastung der Sozialkassen. Trotzdem vertritt Struck die These: „Die Flexibilisierung der europäischen Arbeitsmärkte geht an den tatsächlichen Reformnotwendigkeiten vorbei.“
Flexibilität schadet in der Krise
Um die Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigten, machten Irland, Griechenland und Spanien vor allem von Flexibilitätsmaßnahmen Gebrauch. Anders hingegen Deutschland: „Arbeitskräfte wurden nicht freigesetzt, sondern in den Betrieben gehalten“, fasst Struck die deutsche Krisenbewältigungsstrategie zusammen. Um dies zu erreichen, griff man auf bewährte, historisch gewachsene Strukturen zurück – jene Strukturen, die von der Europäischen Kommission in den Vorjahren als „zu rigide“ kritisiert worden waren. Die Sozialversicherung, insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung, erwies sich als bedeutendes Element zur Krisenüberwindung. „Sie hielt die Kaufkraft der Rentner aufrecht, da die Rentenanpassung in staatlichen Systemen zeitverzögert auf der Basis der Lohnentwicklung erfolgt“ so Struck.
Weiterbeschäftigen statt entlassen
Zudem ermöglichte die Arbeitslosenversicherung durch die Co-Finanzierung von „klassischen betriebsinternen Maßnahmen“ wie Kurzarbeit den Erhalt von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Unternehmen nutzten überdies intern-flexible Arbeitszeitregelungen, wobei gut gefüllte Gleitzeit-, Wochen- oder Jahresarbeitszeitkonten geräumt wurden. „Die Arbeit wurde heruntergefahren, der Arbeitsvertrag blieb bestehen“, fasst Struck die Maßnahmen zusammen. „Rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze konnten so beibehalten werden, was schlussendlich auch zur finanziellen Stabilität der Binnenwirtschaft beitrug“, so Struck. Die höchsten Anstiege an Arbeitslosigkeit verzeichneten hingegen Länder wie Spanien, Irland sowie die baltischen Länder. In diesen fehlen staatliche Instrumente wie etwa Kurzarbeit oder Teilarbeitslosengeld komplett. Teilarbeitslosengeld erhält, wer mehreren versicherungspflichtigen Beschäftigungen nachgeht, und eine davon verliert.
Weshalb die Arbeitgeber versucht haben, auf Entlassungen zu verzichten? Betroffen von der Krise waren hierzulande primär erfolgreiche Industrieunternehmen in den Bereichen Automobilbau, Maschinenbau und Chemie. „In diesen Sektoren sind vor allem beruflich und spezifisch gut qualifizierte Facharbeiter tätig“, so Struck. „Gäbe der Arbeitgeber die weg, würde er wichtiges Know-how verlieren.“
Geringqualifizierte als Krisenverlierer
Opfer der Krise gibt es jedoch auch in Deutschland. Während Facharbeiter von Regelungen wie Kurzarbeit profitierten, sah die Lage für Beschäftigte in Arbeitsverhältnissen mit geringen Qualifikationsanforderungen ganz anders aus. Beispiele sind ungelernte Arbeiter. „Hier bestand für den Arbeitnehmer kaum ein Anreiz, die Beschäftigten zu halten“, so Struck. Die Folge: Viele Leiharbeiter wurden entlassen, die Verträge vieler befristet Beschäftigter nicht verlängert. „Die Schere hat sich in der Krise weiter geöffnet“, so Struck. Der beste Stabilität und den besten Schutz vor Arbeitslosigkeit verheiße somit auch hierzulande vor allem eins: Bildung.
Ansprechpartner für Rückfragen (bis 6.8. und ab 30.8.2015)
Prof. Dr. Olaf Struck
Professur für Arbeitswissenschaft
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E-Mail: olaf.struck(at)uni-bamberg.de
Hinweis
Diesen Text verfasste Andrea Lösel für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.
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