„Als hätte ich den Abend mit einem guten Freund verbracht“
Patrick Roth, Jahrgang 1953, wurde einem breiten literarischen Publikum durch seine „Christus-Trilogie“ bekannt, die sich aus den Bänden „Riverside“ (1991), „Johnny Shines oder die Wiedererweckung der Toten“ (1993) und „Corpus Christi“ (1996) zusammensetzt. Für seine Werke wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem mit dem Hugo-Ball-Preis (2002) und dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2003). „Die Texte Patrick Roths sind Erzähltexte im eigentlichen Sinne. Hier erzählen Menschen, meistens nicht gerade Gewinner der Gesellschaft, Geschichten, die sich aus ihren Erinnerungen speisen“, stellte Dr. Julia Schöll vom Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft das Werk des Autors vor.
Acht Tagebucheinträge stehen für sich – und sind doch miteinander verbunden
Im bisher unveröffentlichten Manuskript „Real Time an den Feuern“ bilden acht Tagebucheinträge aus dem Juli 2002 einen Erinnerungsraum für das Erzählen von Geschichten. Sie handeln von Abenden, die mit Freunden verbracht wurden, an denen nicht nur miteinander gesprochen, sondern auch erzählt und zugehört wurde. Roths Erzählbegeisterung entfacht sich an wiedergesehenen Lieblingsfilmen. Er rekapituliert einschneidende und aufwühlende Szenen. Jeder Tagebucheintrag steht zunächst für sich und ist motivisch doch mit den anderen verbunden – die intensive Teilhabe am Dauern von Zeit, das Erleben in „Real Time“, in Echtzeit, bildet den Kern eines jeden „Bildes“. Roth thematisiert Erzählungen, die die Zuhörer oder Zuschauer etwas unverfälscht miterleben lassen, so, als seien sie selbst dabei gewesen. Ein Erleben in Echtzeit bedeutet hier aber auch, sich Zeit zu lassen, um an etwas teilzunehmen.
Die Lesung beginnt mit einer erinnerten Szene aus Richard Brooks Westernfilm „Bite the Bullet“ (1975): Ben Johnson und Gene Hackman, am Lagerfeuer sitzend und in ein Gespräch vertieft. Roth äußert den Wunsch, dort anwesend zu sein, mit am Feuer zu sitzen und zu lauschen, die Intensität dieser Szene in Echtzeit mitzuerleben. In der Erinnerung nimmt der alternde, namenlose Cowboy (Ben Johnson) einen besonderen Platz ein. Warum nur nimmt er an diesem risikoreichen und äußerst gefährlichen Pferderennen teil? „The price is winning!“ zitiert Roth die Figur und sein warmer, aber entschlossener Ton, sein deutlich amerikanisch klingendes Englisch versetzen die Zuhörer tatsächlich für einen kurzen Moment in die Westernszenerie des Films.
Der nächste Eintrag widmet sich einem nur wenig später erlebten Film: Jean-Luc Godards „Vivre sa Vie“ (1962). Hier vermittelten die einzelnen Szenen ein Gefühl des Dauerns. Es sind Szenen, in denen nichts geschieht, die Handlung nicht vorangetragen wird, die das filmische Erleben ausmacht: „Was mir hier wieder auffiel, war, dass Godard in ‚Vivre sa Vie‘ meine Sehnsucht erfüllt, in einem Film auf längere Passagen zu stoßen, die ich miterlebe, in aller Ruhe miterlebe, als hätte ich den Abend mit einem guten Freund verbracht.“
Das Erleben in Echtzeit
Dann aber wendet sich Roth Situationen zu, in denen das Erleben in Echtzeit, herbeigeführt durch Kunstgenuss, oder vielmehr durch das Erleben einer Erzählung, verwehrt wird. Auf die Einladungskarte zu einer Lesung druckte der Veranstalter den letzten Satz des Buches, aus dem Roth vorlesen sollte. Das Ende wurde verraten und so auch das unvoreingenommene Erleben der Erzählung verunmöglicht. Ähnliches passiere auch in der Literaturkritik. Der Kritiker trete hier als ein „Nicht-Erzähler“ auf. Durch die inhaltliche Wiedergabe des Texts und seine Bewertung werde dem Leser die Möglichkeit genommen, diesen anschließend noch als Ganzes wahrzunehmen.
In weiteren Einträgen wendet sich Roth Erlebnissen mit Freunden zu, bevor er zuletzt von einem erschreckenden Ereignis berichtete. Während eines morgendlichen Spaziergangs wird er Zeuge eines Unfalls. Ein Jogger liegt zusammengebrochen auf dem Asphalt, wenig später wird er in ein Krankenhaus transportiert und stirbt dort. Am Nachmittag geht Roth den Weg, den der Jogger bis zu seinem Zusammenbruch verfolgte, noch einmal ab. Im Versuch, die Situation nachzuempfinden, zählt er die letzten Schritte des Mannes. Wiederum macht sich das Dauern von Zeit bemerkbar, wird jeder Moment festgehalten. Die drängende Frage: Was wäre, wenn man selbst nur noch dreißig Schritte hätte?
Tatsächlich hatte Roth seine Zuhörer für knappe 90 Minuten durch sein Erzählen intensiv an den dargestellten Ereignissen teilhaben lassen. Gleichzeitig luden seine essayistischen Betrachtungen ein, die beschriebenen Filme unter einer erweiterten Perspektive zu sehen, das Erleben in Echtzeit an der Filmerzählung zu erproben.