Mit Sensoren gegen Sorgen und Ängste im Alter
Sie ist 75 Jahre alt, wohnt seit 5 Jahren allein, ist nicht mehr so gut zu Fuß - und hat Angst zu stürzen. Das wäre eine typische deutsche Seniorin: "Dies ist die größte Angst von älteren Menschen", erklärt der Psychologe Prof. Dr. Claus-Christian Carbon vom Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie. "Die Angst vor einem Sturz oder davor, im Notfall nicht mehr rechtzeitig nach Hilfe rufen zu können und dann nicht gefunden zu werden." Er und sein Team forschen deshalb im europäischen Verbundprojekt FEARLESS. Der Name steht für Fear Elimination as Resolution for Loosing Elderly's Substantial Sorrows. Dahinter steckt die Idee, dass man durch gezielten und umsichtigen Einsatz von Technik effektiv Ängste im Alter reduzieren kann. Dies soll dazu beitragen, dass sich das Wohlbefinden, die Mobilität und die soziale Teilhabe von älteren Menschen verbessern.
Selbständig in der eigenen Wohnung
Mit diesem Projekt soll ein intelligentes Hausnotrufsystem entwickelt werden, das alten Menschen dabei hilft, möglichst lange selbständig in den eigenen vier Wänden zu leben. Anders als bei normalen Notrufsystemen steht hier nicht der sogenannte Panikknopf im Mittelpunkt, den ältere Menschen im Notfall drücken müssen, sondern eine Reihe von Sensoren, die in der Wohnung installiert werden und Gefahrensituationen automatisch erkennen. Welche genau das sind – das herauszufinden war eine der Aufgaben der Bamberger Psychologen, die dafür zwei internationale Anforderungsanalysen erstellten. Die technische Umsetzung liegt nun in den Händen der 9 weiteren Projektpartner aus Medizin, Technik und Pflegepersonal. Bis zum Sommer 2014 soll das System vertriebsbereit sein und europaweit angeboten werden.
Um die Bedürfnisse der Zielgruppe zu definieren, hat Carbon mit seinem Team 259 ältere Menschen und 215 Bezugspersonen aus Deutschland, Österreich, Spanien und Italien befragt. Kulturübergreifend fürchteten sie vor allem einen Sturz oder Herzinfarkt in Abwesenheit anderer Personen. Während sich die Italiener und Spanier außerdem vor Einbruchsdiebstahl fürchteten, stand bei den Seniorinnen und Senioren aus Deutschland und Österreich die Angst vor sozialer Isolation an zweiter Stelle. Auch die technischen Ansprüche an ein solches Hausnotrufsystem untersuchten die Psychologen mittels einer Befragung von Pflegepersonal: Es sollte für ältere Menschen bezahlbar und ohne großen Aufwand in bestehende Wohnungen integrierbar sein. Bedingt durch den Mangel an Pflegekräften muss das System für Pflege- und Rettungsdienste ohne großen Schulungs- und Personalaufwand nutzbar sein.
Doch auch bei ganz grundlegenden Entscheidungen halfen die Psychologen: Gleich zu Beginn des Projektes mussten beispielsweise Regeln für Datenschutz und Privatsphäre festgelegt werden. Die Projektgruppe folgte dabei den Empfehlungen der Bamberger, die als einziger Projektpartner auch eine psychologische Expertise einbringen konnten: Die Daten werden nun ausschließlich im System verarbeitet und so weit wie möglich anonymisiert, sodass Dritte keinen Zugriff auf sensible Informationen haben. "Denn natürlich will niemand eine Kamera im Schlafzimmer haben", so Carbon. Darüber hinaus wäre es auch gegenüber dem sozialen Umfeld erklärungsbedürftig, warum man von Sensoren umgeben ist. Die psychologische Begleitforschung soll nun für eine breite Akzeptanz sorgen, beispielsweise indem die Technologie möglichst unauffällig in die Umgebung eingebettet wird.
Hohe gesellschaftliche Relevanz
Doch auch die Angst vor sozialer Isolation kann das FEARLESS-System lindern. Was zunächst wie ein Widerspruch klingt - immerhin ersetzt Technik hier Menschen - wird klar, sobald man die Hauptgründe für Einsamkeit im Alter kennt. "Schon heute funktioniert es kaum, einen Familienangehörigen zu Hause zu betreuen, ohne größere Abstriche im Privaten oder Beruflichen zu machen", so Carbon. Mit dem Assistenzsystem könnten Seniorinnen und Senioren länger selbständig in der eigenen Wohnung leben - und damit auch in den eigenen sozialen Strukturen. Heime schrecken dagegen manchen von einem Besuch ab, gelten sie doch als "die letzte Stufe im Leben", erklärt der Psychologe. Natürlich könne FEARLESS nicht alle diese Probleme lösen, die schönste Lösung sei weiterhin der direkte zwischenmenschliche Kontakt. Auch Projektmitarbeiter Stefan Ortlieb sieht die Überalterung als eine der großen Herausforderungen der Zukunft. "Am meisten begeistert mich die hohe gesellschaftliche Relevanz dieses Projektes", bekennt er. "Das Problem der Überalterung wird sich in den nächsten Jahren noch weiter verschärfen."
Viele ältere Menschen schonen sich und schränken ihre körperlichen Aktivitäten im Alltag bewusst ein, um Stürze zu vermeiden. Dies ist der Beginn einer Abwärtsspirale: Muskelabbau setzt ein, sobald die Muskulatur nicht mehr beansprucht wird und das Sturzrisiko nimmt zu. Das FEARLESS-System soll deshalb nur die wichtigsten Aufgaben übernehmen, also insbesondere für ein besseres Sicherheitsempfinden sorgen. Technisch wäre es natürlich möglich, auch den Inhalt des Kühlschranks zu kontrollieren und ihn bei Bedarf automatisch aufzufüllen. "Eine der wesentlichen Eigenschaften des Menschen ist es jedoch, Kompetenz zu fühlen und zu zeigen", erklärt Carbon diesen Zusammenhang. Wenn man der typischen Hausfrau also die Möglichkeit nimmt, weiterhin zu kochen oder zu backen, wird sie sich vielleicht zunächst noch beschweren – und sich dann zurückziehen. FEARLESS registriert nun ungewöhnliche Bewegungsmuster wie Stürze. Sollte das System Alarm schlagen, fragt die Rettungsleitstelle nach, ob es ein Problem gibt. Erst bei ausbleibender Reaktion veranlasst sie weitere Schritte wie beispielsweise einen Rettungswagen zu schicken.
Die Gesellschaft muss umdenken
Für Carbon war dieses Ergebnis nicht überraschend, dass man bei einem solchen Assistenzsystem nicht alles umsetzen sollte, was theoretisch machbar wäre – wohl aber für die am Projekt beteiligten Techniker. "Sie können ihr Handwerk extrem gut, unterschätzen aber die Dynamik degenerativer Alterungsprozesse, da sie nicht psychologisch denken." Auch Ortlieb sieht hier den wesentlichen Beitrag der Bamberger Psychologen: "Wir wollten sie dafür sensibilisieren, dass ihre Technik immer in ein komplexes Lebensumfeld eingreift."
Carbon wünscht sich, die Öffentlichkeit würde solche Assistenzsysteme nicht nur aus Notwendigkeit akzeptieren, sondern mit einem ganz anderen Gefühl betrachten: Wie ein Rollator ja tatsächlich nicht ein Zeichen von Immobilität ist, sondern von Mobilität trotz körperlicher Einschränkung – so will er auch FEARLESS als nicht als einschränkend und observierend verstanden wissen, sondern als unterstützend und aktivierend.
Kontakt:
Prof. Dr. Claus-Christian Carbon
Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
Tel. +49 (0)951 / 863-1860
ccc(at)uni-bamberg.de
Dipl.-Psych. Stefan Ortlieb
Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie und Methodenlehre (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
Tel. +49 (0)951 / 863-1865
stefan.ortlieb(at)uni-bamberg.de
Hinweis
Diesen Pressetext verfasste Katja Hirnickel für die Pressestelle der Universität Bamberg. Er steht Journalistinnen und Journalisten zur freien Verfügung.
Bei Fragen oder Bilderwünschen kontaktieren Sie die Pressestelle bitte unter der Mailadresse medien(at)uni-bamberg.de oder Tel: 0951-863 1023.